Besondere Weihnachten 1962von Ferdinand Hefemer
Das Weihnachtsfest 1962 sollte eines sein, das Franz Meier und seine Familie Zeit ihres Lebens nicht mehr vergessen werden. Warum das so war, dass soll hier erzählt werden. Im Jahr 1950 Jahren lebte auf einem kleinen Bauernhof außerhalb der Feste Dilsberg die Kriegerwitwe Evamaria Meier mit drei ihrer z.T. erwachsenen Kindern: Rudolf, 28 Jahre alt, Franz, 26 Jahre alt und das Nesthäkchen Maria im Alter von 13 Jahren. Der landwirtschaftliche Betrieb war so gut wie eingestellt, da er zu klein war, um eine Witwe mit ihrer Familie zu ernähren. Aus diesem Grund hatten die beiden Söhne unterschiedliche handwerkliche Berufe erlernt. Rudolf hat eine Ausbildung zum Metzger bei der Metzgerei Kraus in Neckargemünd absolviert, wo er auch noch arbeitete. Sein Stolz war seine BMW R 51, Baujahr 1940: Mit der fuhr er zur Arbeit. Für sie hatte er auch einen Anhänger, mit dem er seine Geräte und Werkzeuge für die von ihm angebotenen Hausschlachtungen transportierte. Das brachte Geld und Naturalien ein. Noch wichtiger für ihn war aber, dass er nach dem Ablegen seiner Meisterprüfung im Metzgerhandwerk eine finanziell lukrative Anstellung in der Küche des Hautquartiers der amerikanischen Armee gefunden hatte. Er gehörte ab diesem Zeitpunkt zu den „gemachten Männern“ auf dem Dilsberg. Franz, der vor dem Krieg im Lederwerk in Neckarsteinach Maschinenschlosser gelernt hatte, war nach seiner Rückkehr von der Kriegsmarine zunächst arbeitslos und hatte sich mit der Landwirtschaft und Reparaturaufträgen im Dorf über Wasser gehalten. Bei einer dieser Reparaturaufträge am Blumenstrich lernte er einen kriegsbedingt aus Mannheim zugezogenen Fabrikanten kennen, der ihm eine Anstellung in seinem aufstrebenden Betrieb für Fahrzeugbremsen in Mannheim angeboten hat. So fuhr er jeden Tag mit dem Fahrrad zum Bahnhof nach Neckargemünd, um von dort aus mit der Bahn nach Mannheim zu kommen. Die kleine Schwester Maria besuchte noch die Volksschule in der Feste bzw. der neuen Schule an der Steige. Das Bauernhaus war groß genug, sodass alle über ein eigenes Zimmer verfügen konnten: Die jungen Männer und Maria im Dachgeschoss, wo noch zu Beginn des Krieges ein zusätzliches Zimmer in die angebaute Scheune hinein geschaffen worden war. Im Erdgeschoss befand sich neben der Wohnküche noch das elterliche Schlafzimmer und das Wohnzimmer. Die ehemalige Milchküche befand sich in der Scheune, direkt zugänglich von der Küche aus. Sie war inzwischen zur Wasch- und Schlachtküche ausgebaut worden. Rudolf führte dort Hausschlachtungen durch. Die jungen Männer waren in unterschiedlichen Vereinen tätig: Während Rudolf dem Vorstand des neu gebildeten FC Dilsberg angehörte – schließlich brauchten diese eine Metzger für Vereinsfeste – , war Franz der Zeugmeister im Turnerbund. Maria war eine eifrige Turnerin. Mutter Evamaria sang traditionsgemäß im Chor der Cäcilia Dilsberg und war aktiv im Handarbeitskreis der katholischen Frauen. Die beiden Brüder waren sehr unterschiedlich: Während Rudolf eine Art „Hans-Dampf-in- allen-Gassen“ war, und regelmäßig den Stammtisch in der „Burg“ besuchte, lebte Franz eher zurückgezogen. Er verbrachte die Abende gerne mit Radiohören und der Lektüre von Fachzeitschriften der Metallbranche und historischen Romanen. Maria betätigte sich in der Gymnastikgruppe des Turnerbundes, aus der auch die Tanzgruppe für die Fasnacht rekrutiert wurde. Im Februar 1951 gab Franz bekannt, dass er eine Freundin aus Heidelberg habe, die er noch im selben Jahr zu heiraten gedenke. Die Mutter war glücklich und unglücklich zugleich: Einerseits freute sie sich, dass nun eine nächste Generation heranwuchs, andererseits war sie verärgert und enttäuscht darüber, dass es einen Anlass für eine rasche Eheschließung gab: Franzens Braut Helga erwartete bereits ein Kind. Und außerdem war sie auch noch evangelisch. Dies empfand Evamaria als eine Schande, die den Ruf der Familie in der Dorfgemeinschaft schädigte. Sie hörte ihre Mitsängerinnen im Kirchenchor schon hinter sich tuscheln. Und zudem waren Helga und ihre Familie keine Kurpfälzer. Sie kamen als Vertriebene aus dem Banat und wohnten in einer Dreizimmerwohnung im Pfaffengrund. Aber wichtig war natürlich, dass das Kind legal geboren wurde. Daher wurde für Anfang März eine Hochzeit anberaumt, mit Trauung in der Evangelischen Kirche – darauf hatten Helgas Eltern bestanden. Das Fest fand dann im kleinen Kreis auf dem Bauernhof statt. Spannungen waren vorprogrammiert: Helgas Eltern entstammten einer ehemals wohlhabende Kaufmannsfamilie und verhielten sich immer noch so, als gehörten sie zu den besseren Leuten, was sie die Meiers auch spüren ließen. Evamaria hatte auf eine Schwiegertochter aus dem Dorf gehofft und Rudolf behauptete mit den von ihm als „Ostzigeunern“ titulierten Vertriebenen immer nur schlechte Erfahrungen gesammelt zu haben. So war das Hochzeitsfest von vornherein mit Spannung geladen. Als dann Helgas Vater in seiner Ansprache beim Festessen noch seine Ressentiments gegen Landbewohner offen ausdrückte, war der Eklat perfekt: Rudolf stand auf und verließ die Festtafel mit einem „mir reicht’s“ und verschwand. Nach längerem betretenem Schweigen wurde dann die Tafel aufgehoben. Helgas Eltern drängten nach Hause. Franz blieb nichts anderes übrig, als ebenfalls seinen Koffer zu packen und das Angebot seiner neuen Schwiegereltern anzunehmen, bis zum Bezug einer eigenen Wohnung mit Helga in deren Zimmer in der elterlichen Wohnung im Pfaffengrund mit zu wohnen. Im September 1951 wurde dann Jürgen geboren und im Dezember desselben Jahres konnten Franz und Helga in eine Dreizimmerwohnung in Heidelbergs Haspelgasse einziehen. Eine Tante von Helga hatte sie geräumt, da sie ihr als alleinstehende Kriegerwitwe zu groß geworden war. Franz fühlte sich trotz der zunächst äußerst engen Verhältnisse sehr wohl, auch in der Zeit, als sie für drei Monate zu dritt in einem Zimmer leben mussten. Sein Jürgen und seine Helga waren sein ganzes Glück. Als er dann im Frühjahr 1952 noch zu den Heidelberger Druckmaschinen wechseln konnte, die ihm noch die Gelegenheit boten, seinen Maschinenbaumeister zu machen, schien für ihn alles perfekt. Wäre da nicht das Zerwürfnis mit seinem Bruder gewesen, was sich auch auf das Verhältnis zu seiner Mutter auswirkte. Obwohl Mutter Evamaria regelmäßig Postkarten schrieb, um die junge Familie auf den Dilsberg einzuladen, kamen diese nur ganz selten, nicht einmal zu Weihnachten oder den Geburtstagen von Mutter, Bruder und Schwester. Zu tief saß noch der Ärger über den von Franz so empfundenen Rauswurf. Als dann im August 1953 eine Postkarte aus Heidelberg in Dilsberg eintraf, auf der stand, dass Franz und Helga nun auch eine Tochter namens Gabriele hatten, hielt es die zweifache Oma Evamaria nicht mehr aus. Sie fuhr ohne Anmeldung nach Heidelberg zu der Adresse, die auf der Postkarte angegeben war. Als ihr in der Haspelgasse die Wohnungstür geöffnet wurde, blickte sie in verlegene Gesichter. Alle schwiegen zunächst und schauten sich erstaunt an. Aber als Jürgen angelaufen kam, freundlich die ihm fremde Frau anstrahlte und ein fragendes „Oma“ ausrief, war der Bann gebrochen. Franz hatte ihm wohl Bilder von seiner Oma gezeigt. Mit einem „ich muss Gabriele wickeln“ verschwand Helga, sodass Mutter und Sohn in Ruhe aufeinander zugehen konnten. Die Verbindung schaffte schon Jürgen, der inzwischen seines Vaters Schoß mit dem seiner Großmutter gewechselt hatte. Ab diesem Zeitpunkt gab es regelmäßige Besuche Evamarias. Aber auch die junge Familie kam auf den Dilsberg, am besten immer dann, wenn Rudolf gerade bei seinen Fußballern war. Denn zwischen den beiden Brüdern herrschte nach wie vor Funkstille und die Schwester Maria war immer mit Freundinnen und Freunden unterwegs. Am meisten freute sich der kleine Enkelsohn über die Oma und ihren Bauernhof, gab es dort doch vieles zu entdecken und zu erleben. Nach einem ihrer Besuche in Dilsberg erklärte Helga ihrem Franz, dass sie sich eigentlich mit den Kindern auch ein Leben auf dem Dorf vorstellen könnte und sie alle etwas davon hätten, wenn die Oma sich ab und zu auch um die Enkel kümmern könnte. Ihre Eltern wollten die Enkelkinder eher auf Distanz haben. Franz war erstaunt. Damit hatte er nicht gerechnet. Nach kurzem Innehalten gab er aber zu bedenken: In Dilsberg eine Wohnung zu finden, ist in dieser Zeit so gut wie unmöglich. Die Wohnungen werden per Gesetz von der Kommune zugeteilt. Da wir eine Wohnung haben, werden wir keine in Dilsberg bekommen. Auch wenn meine Schwester ausziehen wird, was sie angekündigt hat, reicht der Wohnraum im Elternhaus nicht für meine Mutter, Rudolf und unsere vierköpfige Familie. Und zudem: Wie willst du Deinen kleinen Job im Kaufhaus Anker von Dilsberg aus aufrechterhalten?“ So blieb Franz mit seiner Familie in Heidelberg in der kleinen Dreizimmerwohnung. Als dann im Mai 1957 das dritte Kind, Fridolin auf die Welt kam, wurde es dort allerdings sehr eng. Helga drängte immer mehr auf eine größere Wohnung, am besten in Dilsberg, wo es den Kindern immer so gut gefiel. Dieser Wunsch wurde durch ein trauriges Geschehen neu entfacht: Im September desselben Jahres bekam Franz die Nachricht, dass seine Mutter wegen eines bereits fortgeschrittenen Brustkrebses in der Frauenklinik liege. Helga kümmerte sich sofort um sie und besuchte sie jeden Tag. Als dann eine große Operation anstand, begleitete sie ihre Schwiegermutter bis zum Operationssaal. Das sollte das letzte Mal gewesen sein, dass sie sich begegneten. Aufgrund eines unerwarteten Herzstillstandes verstarb Evamaria bei der Operation. Bei der Beerdigung, zu der ganz viele Dilsbergerinnen und Dilsberger gekommen waren, standen die Brüder zum ersten Mal wieder nebeneinander. Ihre inzwischen in Offenbach wohnende Schwester Maria war mit ihrem Verlobten Bob Miller, einem ehemaligen amerikanischen Soldaten gekommen. Sie war untröstlich, während die beiden Brüder in stoischer Haltung am Grab standen und die mahnenden Worte des Pfarrers, die fromme Tradition der Mutter weiterzuführen, unbeteiligt aufnahmen. Beim anschließenden Trauerkaffee im Wohnzimmer des Hofes saßen die drei Geschwister aber schon wieder an unterschiedlichen Enden des Tisches. Rudolf sprach dem von ihm ausgeschenkten Obstler selbst ausgiebig zu: Er fürchtete sich jetzt schon vor der kommenden Auseinandersetzung um das Hoferbe, zumal der Verlobte seiner Schwester bereits auf dem Weg vom Friedhof angekündigt hatte, dass er mit den Geschwistern am Abend noch reden wolle. Als die letzten Trauergäste gegangen waren kam es zum Geschwistertreffen am Küchentisch. Helga hatte sich bereits mit Jürgen, den sie zur Beerdigung mitgebracht hatten, ins Wohnzimmer zurückgezogen. Sie wollte sich aus allem raushalten. Nachdem sie zunächst etwas verlegen dasaß, verkündete Maria dann doch direkt ihre Erwartungen: Sie und Bob wollten in Offenbach einen Musikklub übernehmen und bräuchten dazu 10 000 Mark. Zudem sei sie schwanger und müsse nach der Geburt des Kindes eine Beschäftigungspause einlegen. Deshalb seien sie an einer baldigen Auszahlung ihres Erbes interessiert. Rudolf, vom Alkohol sichtlich gelockert, bekam einen roten Kopf und brüllte fast: „Kaum ist die Mutter im Boden, fangt ihr schon mit dem Erbe an. Um es gleich zu sagen: Zunächst gibt es gar nichts. In Mutters Schatulle im Schlafzimmer liegt ein Schriftstück, wonach sie mich als ältesten Sohn zum Erbverwalter einsetzt. Also bin ich derjenige, der bestimmt, was mit dem Erbe passiert. Wie geteilt wird, das geht aus einem beim Kriegsnotar verfassten Testament unseres Vaters hervor: Danach soll nach Mutters Tod, der Besitz zu gleichen Teilen an uns Kinder aufgeteilt werden. Sollte einer von uns die Landwirtschaft weiter betreiben, soll er den Hof erhalten und die Geschwister ausbezahlen. Ich will von vornherein klar sagen: Ich will das Haus und die Scheune behalten, auch weil ich Platz für die Hausschlachtungen brauche. Bis auf den einen Acker am Dilsbergerhof könnt Ihr alle anderen Grundstücke haben. Was Ihr damit machen wollt, ist dann Eure Sache.“ Franz hatte schon einen roten Kopf und musste an sich halten. Hatte er doch heimlich schon die Idee, mit seiner Familie in Dilsberg einzuziehen. Er versuchte aber gelassen zu wirken, als er seinem Bruder widersprach: „Das Schreiben der Mutter, dass Du der Nachlassverwalter sein sollst, ist überhaupt nichts wert. Das würde nur gelten, wenn ein Notar das beglaubigt hätte, was aber nicht der Fall ist. Also gilt nur das, was Vater festgelegt hat: Der vorhandene Besitz ist zu gleichen Teilen aufzuteilen und Du Rudolf, hast gar keine Vorrechte irgendwelcher Art." Rudolf sprang auf und brüllte: „Bevor jetzt was Schlimmes passiert, gehe ich lieber in die „Burg. Aber dass es klar ist: An und in das Haus kommt mir keiner und keine von Euch!“ Nun saßen Maria und Franz konsterniert auf der Küchenbank, als Bob versuchte, seine und Marias Vorstellungen von der Erbaufteilung darzulegen. Franz wimmelte sofort ab: „Heute kein Wort mehr über das Erbe. Wir müssen alle in Ruhe darüber nachdenken, wie es in der Erbfrage weitergehen soll. Aber so einfach, wie Rudolf sich das vorstellt, kann es ja nicht sein.“ „Aber Bob und ich brauchen doch das Geld ganz dringend oder zumindest eine Hypothek auf das Haus, damit uns die Bank Geld gibt“, flehte Maria ihren Bruder an. „Lass uns abwarten, bis Rudolf sich wieder beruhigt hat und man mit ihm ein vernünftiges Wort wechseln kann. Ich bin interessiert, mit meiner Familie hierherzuziehen. Das wäre für die Kinder ideal. Und Rudolf kann niemals für sich allein ein ganzes Haus beanspruchen.“ Danach gingen nicht nur Wochen und Monate, sondern Jahre ins Land, in denen die Geschwister schließlich über Rechtsanwälte miteinander korrespondierten. Sie schafften es einfach nicht, noch einmal am Küchentisch zusammenzusitzen, um eine gemeinsame Lösung herbeizuführen. Eines Tages erreichte Franz ein Schreiben von Maria, mit dem sie mitteilte, dass sie von Rudolf Geld bekommen habe und deshalb an einer weiteren Erbauseinandersetzung nicht mehr interessiert sei. Nun war es also allein an Franz, mit Rudolf zu einer Lösung zu kommen, was bedeutete, dass er mit Helga und den drei Kindern weiter noch in der kleinen Dreizimmerwohnung in der Haspelgasse wohnen musste, während Rudolf ganz alleine im elterlichen Hof saß. Der hatte die Scheune inzwischen vermietet. Die Dachzimmer standen leer, weil er gegenüber dem Rathaus erklärt hatte, diese müsse er für seinen Bruder und seine Schwester vorhalten. Nachdem Rudolfs Anwalt in seinem letzten Schreiben vom September 1962 erneut geschrieben hatte, dass eine Lösung des Erbproblems in Aussicht stehe, aber kein Wort dazu ausführte, was für eine Lösung das sein sollte, beschloss Franz schließlich auf Anraten seines Anwaltes, über eine Klage beim Gericht seinen Anspruch auf das Elternhaus geltend zu machen. Dann stand Weihnachten vor der Tür: Helga schmückte am Morgen des Heiligen Abends mit den Kindern gegen elf Uhr den kleinen Christbaum, als Rudolf, der die letzten Einkäufe gemacht hatte, dazu kam und sagte: „Ich hoffe, dass es das letzte Mal ist, dass wir in dieser kleinen Wohnung mit einem winzigen Weihnachtsbaum Weihnachten feiern müssen. Hoffentlich wird uns das Gericht ein Wohnrecht in Dilsberg einräumen.“ Von Helga kam nur ein zustimmendes „oh ja“, während die Kinder spontan Fantasien entwickelten, was sie tun würden, wenn sie eines Tages im Dilsberger Bauernhof wohnen könnten. Da könnten sie einen Hund und Katzen haben, frische Eier von eigenen Hühnern essen, so viel sie wollten. Sie würden in der Scheune Verstecken spielen und mit den Leiterwagen über den Hof rasen. Und zu Weihnachten würden sie die große Tanne im Hof zu einem riesigen Weihnachtsbaum mit hundert Kerzen machen. Franz hatte gerade mit einem Seufzer und einem „schön wär’s“ die Wunschvorstellungen der Kinder beendet, als es klingelte. Alle dachten, der Briefträger bringe noch Weihnachtspost vorbei. Der inzwischen fünfjährige Fridolin rannte zur Türe, öffnete sie und blieb erstaunt stehen: Ein für ihn fremder Mann und eine Frau standen vor der Tür und fragten, ob sein Vater da sei. Da kam auch Franz aus dem Wohnzimmer und traute seinen Augen nicht: Da stand mit Hut und Mantel neben einer schick gekleideten Frau sein Bruder, den er seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Beide schwiegen zunächst verlegen bis Rudolf ein bescheidenes „Dürfen wir reinkommen?“ äußerte. Franz führte sie schweigend ins Wohnzimmer in dem Helga, Jürgen und Gerlinde immer noch beim Schmücken das Baumes waren. Helga sah ihren Schwager und rief spontan mit strengem Ton: „Kinder, wir gehen in die Küche!“ „Das muss nicht sein, wenn es nach uns geht. Wir wollten Euch allen frohe Weihnachten wünschen und eine gute Nachricht überbringen: Meine Verlobte Nancy und ich werden im April in die USA umziehen. Ich kann dort in Fredricksburg, Texas, der Heimatstadt Nancys eine gut gehende, von einem deutschen Metzger gegründete kleine Wurstfabrik übernehmen und wir können in ihrem Elternhaus wohnen, das sie verlassen hat, als ihr Mann bei der Invasion in Frankreich gefallen ist. Das heißt: Ihr könnt ab April in Dilsberg einziehen, wenn ihr wollt. Ich will zunächst auch nichts von meinem Anteil am Erbe. In den USA ist alles geregelt und wir beide haben uns ein erkleckliches Sümmchen bereits zusammengespart.“ Obwohl sieben Menschen im Weihnachtszimmer saßen, war es plötzlich mucksmäuschenstill. Bevor Franz seine Gedanken gesammelt hatte, um Rudolf zu antworten, fuhr dieser fort: „Ihr wundert Euch sehr wahrscheinlich, warum es nach jahrelangem Streit, alles zum Besseren wenden soll. Das liegt an Nancy. Sie hat nach dem Tod ihres Mannes sich bei der Army verpflichtet und kam ins Headquarter nach Heidelberg, wo sie für die Beschaffung der Lebensmittel für die regionalen Küchen verantwortlich ist. So haben wir uns kennen und lieben gelernt. Da sie aus einer alten Methodistenfamilie stammt – ihr Vater war Prediger – hat sie mich im Lauf der letzten Monate davon überzeugt, dass das Wichtigste im Leben Friede und Versöhnung sei und mich gedrängt, mit Dir Franz, Frieden zu suchen. Und dann kam wie ein Wunder dieses Angebot aus Fredricksburg, sodass ich Dir und Deiner Familie nun Platz machen kann.“ Nancy drückte Rudolfs Hand. Helga schaute Franz ungläubig an und die kleinen Kinder fragten erstaunt: „Was ist los?“ Jürgen, der als Ältester die Situation richtig einschätzen konnte, nahm seine Geschwister an die Hand: „Ich erkläre euch das in der Küche“ und so überließen sie das Weihnachtszimmer den Erwachsenen, die auch noch einiges zu klären hatten. Nach einer guten Stunde verabschiedeten sich Nancy und Rudolf mit einem „bis morgen“. Nancy hatte nämlich kurzerhand Franz und seine Familie zum traditionellen amerikanischen Truthahnessen am Weihnachtsfest eingeladen. Dort gab es dann noch für die Kinder amerikanisches Spielzeug, das sie bisher nicht kannten. So wurde das Weihnachtsfest 1962 für alle zu einem unvergesslichen Erlebnis. Ferdinand Hefemer Dezember 2021 PDF-Download |
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